Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Nr.9/2001 vom 26.4.2001
Bochumer Memento


"Sachor"? eine studentische Zeitschrift für jüdische Geschichte und Gegenwart

1993 etablierte sich an der Bochumer Universität die Studentische Arbeitsgemeinschaft für Antisemitismusforschung, kurz StAGA genannt. Angesichts der immer wieder auftauchenden Forderung in der politischen Debatte, unter die deutsche Vergangenheit endlich einen Schlußstrich zu ziehen, wollten die Mitglieder ein Zeichen setzen. Sie gründeten Sachor, zu deutsch "Erinnere Dich". Ihr Anliegen: "Die Bewahrung der Erinnerung an Auschwitz, die Geschichte vor und nach der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkrieges." Und natürlich über Israel, seine Geschichte und Politik zu informieren. Deshalb lautet das zentrale Thema einer der jüngsten Ausgaben "Israel? Wandel eines Traumes".

Daß Studenten eine historische Zeitschrift gründen, ist nichts Ungewöhnliches. Daß diese nach über sieben Jahren und mittlerweile zehn Ausgaben immer noch existiert, dagegen schon. Das liegt zum einen an der Auswahl der Themen und natürlich an den illustren Gastautoren, die in Sachor mit zahlreichen Beiträgen vertreten sind. In der vorliegenden Ausgabe ist es unter anderem der israelische Historiker Omer Bartov, der seit dem Erscheinen seines Buches Hitlers Wehrmacht? Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges auch hierzulande kein Unbekannter mehr ist. Bartov setzt sich mit der Rezeptionsgeschichte der unter dem Pseudonym "Ka-Tzetnik" in Israel erschienenen mehrbändigen Erlebnisgeschichte des Autors Yechiel Dinur über den "Planeten Auschwitz" auseinander. Analytisch und sehr anschaulich vermittelt er ein Bild über die Funktion, die die Überlebenden der Schoa in der israelischen Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten nach 1948 hatten: "Sie wurden nicht nur (oder sogar in erster Linie) als Individuen akzeptiert, sondern als unwiderlegbare Legitimierung des Kampfes, als grundlegende Zustimmung, stark, mutig und grausam zu sein, die Feinde zu bekämpfen, als ob sie die Nazis wären, die Niederlage zu fürchten, als ob sie ein neues Auschwitz herauf beschwören könnte, jedes Gefühl von Mitleid und Mitgefühl für jemand anderen außer sein eigenes Volk zu unterdrücken."

Warum sich die Redaktion als weitere Gastautorin ausgerechnet die SED-Altlast Angelika Timm als akademisches Zugpferd ans Bein gebunden hat, bleibt ein Rätsel. Zu DDR-Zeiten hatte Frau Timm Hebraistik in Ost-Berlin studiert. Das durfte nicht jeder, nur verdiente, hundertfünfzigprozentige Genossen kamen zum Zuge. Wenn ein Wendehals wie Frau Timm nun über den Wertewandel der israelischen Gesellschaft im Allgemeinen und den "Status Quo von Staat und Religion" im Besonderen schreibt, dann hat das natürlich schon seinen Reiz. Aber bestimmt nicht im Sinne der Herausgeber. Und so simuliert Timm denn auch ihr Wissen um die israelische Gesellschaft, indem sie den Leser - wie schon in ihren Büchern - erst einmal tonnenweise mit Zahlenmaterial derart überschüttet, als ginge es um die Erfüllung des nächsten Fünf-Jahresplans. Alte Gewohnheiten lassen sich halt nur schwer ablegen.

Trotz der Gastautoren kann Sachor nicht verbergen, eine studentische Zeitschrift zu sein. Einige Beiträge lesen sich wie recycelte Seminararbeiten. Andererseits aber greifen die jungen Historiker und Politologen aus dem Umfeld der StAGA einige hochaktuelle Themen auf, wie zum Beispiel "Antisemitismus in Computernetzen - neue Kommunikationsmöglichkeiten für Rechtsextremisten". Ebenfalls interessant ist die abgedruckte Analyse der auch in Deutschland äußerst populären israelischen Krimis von Batya Gur und Shulamit Lapid in Hinblick auf gesellschaftliche Realitäten in Israel. Alles auf wissenschaftlichem Niveau und dennoch gut lesbar. Das unterscheidet Sachor von den vielen anderen Zeitschriften zum Judentum und Antisemitismus. Die Themenpalette ist breit gestreut, und die ambitionierte junge Autorenschaft überzeugt durch Kompetenz und viel Gespür für Aktualität.
Ralf Balke

Sachor. Zeitschrift für Antisemitismusforschung, jüdische Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von der Studentischen Arbeitsgemeinschaft für Antisemitismusforschung (StAGA) e.V., Klartext Verlag, Essen, Einzelpreis 25 Mark