"Freiheit ist mehr als Poesie von den Balkons der Moneda"
Neoliberalismus und Neo-Widerständigkeiten im stillen Chile
Alejandra Bottinelli und Sebastián Riveros
Das Jahr 1990 markiert für Chile das Ende der 17-jährigen, von Pinochet angeführten Diktatur. Die
‚nationale Übereinkunft', ein runder Tisch an dem sich Teile der gemäßigten Opposition zusammen
mit der politischen Rechten und Militärs, trafen, entwarf die ersten Schritte hin zu einem "ausgehandelten
Übergang zur Demokratie", bei dem die Basisorganisationen an den Rand gedrängt wurden. Die heutigen
soziale Phänomene sind bestimmt durch die von der Diktatur verursachten Transformationen.
Das in Chile entwickelte neoliberale Projekt wurde in seiner Anfangsphase von in den USA ausgebildeten sogenannten
Chicago-Boys eingeführt. Das Programm wurde ab 1975 mit folgenden Mitteln durchgesetzt: rasche Privatisierung
der Ökonomie, Strukturierung eines modernen Finanzsektors, Wirtschaftsöffnung nach außen durch
eine drastische Absenkung der Zölle, Öffnung für ausländische Investitionen, Politik der Diversifikation
der Exporte und einer Industriepolitik die dem Prinzip der natürlichen Auslese angesichts des externen Wettbewerbs
gehorcht. Diese auferlegten Transformationen haben Chile zu einer der offensten Ökonomien für transnationales
Kapital gemacht.
Auf diese Weise sind die 90er Jahren von der Plünderung öffentlicher Güter und Dienste, die der
Staat früher gewährte, gekennzeichnet. Auf der anderen Seite ist das letzte Jahrzehnt durch das Phänomen
der Flexibilisierung und Verallgemeinerung von Krediten bestimmt. Diese Situation hat zur Bildung eines Gefühls
des Zugangs zu materiellen Gütern verholfen, was die Idee der "ökonomischen Demokratie" insofern
rechtfertigt, als alle die wollen den Konsum integriert werden. Gleichzeitig wird damit ein so hoher Verschuldungsgrad
hervorgebracht, der zum wesentlichsten Beitrag der "Disziplinierung der Arbeitskraft" wird. Die ArbeiterInnen
werden in ultra-abhängige Individuen verwandelt, die bereits sind, jedwede Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.
Selbst die Weltbank bezeichnet Chile mittlerweile als eine der Nationen mit der ungerechtesten Einkommensverteilung.
Die Neue Rechte
Die Rechte dagegen ist in dieser Hinsicht politisch effizienter und wurde auf lokaler Ebene führend, indem
sie sich um die "wirklichen Probleme der Leute" kümmerten. Das ist der apolitische Diskurs einer
Rechten, die ihre Militäruniformen an den Nagel gehängt hat, nicht aber ihre konservative katholische
Haltung. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung ist der ehemalige Bürgermeister der reichsten Kommune des
Landes, Las Condes, und jetziger Bürgermeister von Santiago Centro: Joaquin Lavín. "Lavín
hat die Dinge effektiv angepackt und die Probleme der Leute gelöst" ist der Diskurs, der fast die Hälfte
der Chilenen bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Oktober 2000 dazu gebracht hat ihn zu wählen.
Und heute, zwei Jahre nach Amtsantritt der Regierung Lagos, hält dieser Diskurs die Concertación verblüfft
und bestürzt angesichts der nächsten Wahlen. Die Rechte erzielte bei den letzten Kommunalwahlen nicht
nur Erfolge in den reichsten Kommunen des Landes, sondern auch in den größten sowie ärmsten.
Neo-Widerständigkeiten: Unsere Formen der Bewegung
Das Problem liegt bei der offensichtlichen Delegitimierung der traditionellen Politik und ihrer Parteien. Diese
Ausgangsposition führte zu Beginn der 1990er Jahre zu neuen, autonomen und radikaleren Organisationsformen,
etwa den politisch-sozialen Kollektiven (colectivos). Ursprünglich entstanden die colectivos in studentischen
Räumen (90er Jahre), haben aber zunehmend ihre Aktionsräume erweitert auf Schulen, poblaciones (ärmere
Stadtviertel) und andere jugendliche Zusammenschlüsse. Charakteristisches Element, ist eine Perspektive zu
schaffen, die in der Gegenwart wurzelt, ohne jedoch die vergangenen Kämpfe zu vergessen. Sie beginnen von
der Freude, von der Hoffnung und von einer neuen Rebellion aus: "Das Jammern ist vorbei, die Fiesta hat begonnen!"
Das Auftauchen eines kritischen Subjektes, dass nicht notwendigerweise mit den traditionellen, "strukturalistischen"
Definitionen, die so typisch für die chilenische Linke sind, verbunden ist, stellte sowohl für die Sektoren
der Macht als auch für diejenigen die sich gegen den Neoliberalismus erhoben haben eine offene Frage dar.
Dieses Subjekt steht außerhalb des Kanons des theoretisch begründeten Subjektes der traditionellen antikapitalistischen
Positionen, wo das Triumvirat des Arbeiters-Bauerns-pobladors regiert, und wo es offenes Unverständnis von
Phänomenen wie der Überausbeutung der Arbeiter mit Schlips und Kragen, der Frauendiskriminierung oder
des Aufkommens jugendlicher Identitäten die sich entlang ästhetisch-politischer protestorientierter Bezugssysteme
gruppieren.
Im allgemeinen war die Speerspitze der sozialen Kämpfe in Chile auf das Problem der Ausbeutung zentriert.
Damit wurden das Verstehen der Formen der kapitalistischen Legitimität und die subtile Konstruktion kultureller
Hegemonie, die in komplexe Herrschaftsdynamiken eingebunden sind hintangestellt. Immer noch sehen viele Problem
wie Kultur, Umwelt, Sexualität und Geschlechterherrschaft oder der Indigenismus weiterhin als "neu entstandene
Themen" an, als ob die Arbeiter kein Fernsehen gucken, kein Monoxid einatmen, kein Plastik essen würden
oder als ob es keine Unterschiede zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen geben würde.
Damit soll der Weg zu einem sozialen und politischen Kampf mit langem Atem geöffnet werden, um eines der Phänomene
das Chile vielleicht stärker als andere Land trifft, bekämpfen zu können: die politische und kulturelle
Globalisierung sowie die Transnationalisierung der kapitalistischen Ökonomien. Die in unterschiedlichen Teilen
der Welt erfolgten Mobilisierungen gegen die Institutionen der kapitalistischen Weltordnung zeigten auch in Chile
einen neuen Akteur auf: die erste gemeinsame Aktion war die Mobilisierung gegen die Jahresversammlung der Interamerikanischen
Entwicklungsbank im März 2001 in Santiago de Chile. Gruppen von Arbeitern, StudentInnen, Arbeitslosen, Jugendlichen
und anderen sangen, dass sie nicht zum Rhythmus der Weltbank tanzen würden. Die Aktionen waren das Ergebnis
harter, wochenlanger Arbeit derjenigen etwa 40 Gruppen, die sich in der Koordination gegen die BID zusammengeschlossen
hatten. Mit blauen Flecken, Vergiftungen und ungefähr 300 Verhafteten, die fast alle misshandelt wurden, wurden
die Aktivitäten trotzdem mit einer friedlichen Intervention bei dem süßen und poetischen Event
beendet, das die Regierung auf der Plaza de la Constitución veranstaltete. Angeklagt wurde, dass die Freiheit
"Etwas mehr als Poesie von den Balkons der Moneda" ist. Das Wichtigste dieser Erfahrung aber war, dass
ein Rahmen für die Öffnung von neuen Räumen permanenter Zusammenarbeit der unterschiedlichen colectivos
geschaffen wurde, der direkt zur Bildung der Antikapitalistischen Koordination (CACA) führte, die seit dem
verschiedene öffentliche Aktionen durchgeführt hat und im wesentlichen eine Diskussionsarbeit zwischen
den Organisationen leistet. Momentan bereitet sie ein kulturelles Event, den "Anti-kapitalistischen Karneval"
vor.
Alejandra Bottinelli und Sebastián Riveros sind AktivistInnen des Colevtivo Changó in Santiago de
Chile. Mit Alejandra Bottinelli findet am Freitag, den 16.11.2001 um 17.30 Uhr im AStA, Raum 013 ein Gespräch
statt.
Übersetzung: Olaf Kaltmeier, gekürzte Fassung eines Textes, der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift
‚Solidaridad' erschienen ist (erhältlich am notstand).