Dr. Hubert Schneider

9. November 2001 – Ansprache anlässlich des 63. Jahrestages der Pogromnacht 1938.

Die Bilanz des Novemberpogroms 1938 ist bekannt: über 90 Ermordete und Todesfälle, über 30 Schwerverletzte und Selbstmorde, nicht wenige Vergewaltigungen; etwa 30 000 Juden wurden verhaftet, davon fast 9 000 ins Konzentrationslager Buchenwald, über 10 000 ins Konzentrationslager Dachau, fast 10 000 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt, von denen viele nie mehr zurückkamen; zahlreiche jüdische Friedhöfe wurden verwüstet, mindestens 262 Synagogen zerstört und/oder geplündert, Zehntausende von Fensterscheiben eingeworfen. Es entstand ein erheblicher Sachschaden.
Der Novemberpogrom von 1938 brachte die bis dahin größten und schlimmsten antisemitischen Ausschreitungen auf deutschem Boden – wie in Mitteleuropa überhaupt – seit den Massakern des Mittelalters. Viele Deutsche waren daran beteiligt, alle Deutsche waren Zeugen; denn es geschah in ihrer Stadt, in ihrem Dorf, in ihrer Straße, in ihrem Haus, verübt von Deutschen an Deutschen, eben „nur“ weil sie Juden waren.
Jeder konnte sehen, dass dies ein himmelschreiendes Unrecht war, und alle mussten es wissen, aber so gut wie niemand hat es laut gesagt oder gar hinausgeschrieen. Es mag sein, dass die Mehrheit des deutschen Volkes damals dies alles vielleicht nicht so oder nicht ganz so gewollt hat. Doch gab es viele heimliche und offene Schadenfreude, wenig erkennbare Anteilnahme oder tätige Betroffenheit oder gar mutige Hilfeleistung, dafür Gleichgültigkeit vor allem und keinerlei öffentlich vernehmbaren Protest.
Die Pogromnacht vom November 1938 war die Nacht, in der Anstand und Menschlichkeit auch aus ihren christlichen Angeln gehoben wurden. Sie war im Sinne der Nationalsozialisten ein gelungener Volkstest, wodurch das Tor zur folgenden, bislang einmaligen Judenverfolgung und Judenvernichtung erst richtig aufgestoßen und die letzten Hemmschwellen abgebaut wurden. Es ist richtig: 1938 ging es noch darum, ein „judenreines Reich“ durch den Zwang zur Auswanderung zu schaffen. Dennoch: Vom 9./10. November 1938 bis zur Einrichtung der sogenannten Judenhäuser 1939, zur Einführung des stigmatisierenden „gelben Sterns“ im September 1941, den wenige Wochen später beginnenden Deportationen auch in unserer Stadt waren es nunmehr kleine Schritte. Und alles endete in den Todesfabriken in Auschwitz, Majdanek, Treblinka und vielen anderen Vernichtungslagern. Davon haben wohl nicht alle gewusst, und viele haben es nicht geglaubt oder überhaupt für möglich gehalten.
Den Novemberpogrom 1938 und die folgenden Maßnahmen zur Ausgrenzung und Stigmatisierung der Juden haben alle Deutschen so oder so unmittelbar miterlebt, die deutsche Öffentlichkeit wusste alles. Das war in Bochum nicht anders als in anderen Städten und Dörfern.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November und am 10. November 1938 wurden in Bochum nicht nur die Synagoge und die jüdische Schule zerstört, auch viele Privatwohnungen. Wie haben wir uns das konkret vorzustellen? Die vielen hier bekannte Ottilie Schönewald schreibt in einem auf den 1. 11.1954 datierten Bericht u.a.:
„Bei den Vorgängen in der Nacht zum 10. November und am 10. November sind sämtliche Fensterscheiben in dem von uns bewohnten Teil des Hauses Goethestraße 9 zerschlagen worden, sowie auch die Glas-Rückwand des Wintergartens und die große Scheibe, die das Esszimmer vom Wintergarten trennte. Da mein Mann damals in ein Konzentrationslager gebracht worden war, wurde mir behördlich aufgegeben, die Fensterscheiben binnen einiger Tage ersetzen zu lassen...
Die Haustüren (Eiche) waren durch Axthiebe völlig zerschlagen, innere Türen teilweise ebenfalls, auch in den oberen Stockwerken.
Die eingelegten Parkettfussböden in den unteren Räumen waren durch eingetretene Glassplitter stark beschädigt, ebenfalls die Holztäfelung im Speisezimmer, die bei dem Zerstörungswerk als Zielscheibe für Glas- und Porzellan-Wurfgeschosse genutzt worden war.
2 eingebaute Marmorkamine waren aus den Wänden gerissen und zerschlagen worden, das Mauerwerk beschädigt, die Gasleitungen abgeschnitten.
Tapeten wurden abgerissen, die angestrichene Holzverkleidung verkratzt und beschädigt, die elektrischen Wandarme wurden herausgerissen....Eingebaute Waschbecken und große Wandspiegel wurden zerschlagen. Die Wasserabzugsrohre wurden verstopft und dann die Wasserleitungen aufgedreht, wodurch Wasserschaden entstand.“
Fast alle Möbel wurden zerstört, Frau Schoenewald listet alles im Detail auf: Die Einrichtungen der einzelnen Zimmer, die Teppiche das Geschirr, das Klavier, das man durch ein Fenster auf die Strasse werfen wollte, was nicht gelang, da die Fensteröffnung zu eng war. Im Schlafzimmer wurden die Daunendecken zerschnitten, alle Beleuchtungskörper und Spiegel abgerissen und zerstört. Allein 10 Ölgemälde wurden zerschnitten, andere Kunstgegenstände verschwanden.
Der Bericht endet resignierend: „Ich kann mich nicht an alle Einzelheiten erinnern.“
Die Angaben von Frau Schoenewald wurden in einer eidesstattlichen Erklärung der letzten Sekretärin der Schoenewalds bestätigt, die in der Pogromnacht und am folgenden Tag in der Wohnung war.
Wer waren die Täter? Wir gehen immer davon aus, dass es die SA-Männer waren, die in den Wohnungen wüteten. In der Erklärung der letzten Sekretärin der Schoenewalds wird dies korrigiert. Sie schreibt:
„Ich war in der Kristallnacht in der Wohnung Schönewalds. Die Einrichtung war schon ziemlich stark beschädigt. Aber noch stärkere Verwüstungen sind dann im Laufe des Tages veranstaltet worden, als ein Lehrer seine Gymnasial-Jungenklasse durch die Wohnung führte. Als ich nach diesem Besuch der Klasse in die Wohnung kam, war so ziemlich alles zerstört oder beschädigt.“
Und auch in anderen Berichten z.B. über die Zerstörung der Wohnung des Rechtsanwalts Marienthal in der Parkstrasse 11 oder der Familie Pander in der Bongardstraße 14 wird davon berichtet, dass die schlimmsten Zerstörungen nicht in der Nacht, sondern im Verlauf des 10. November stattfanden. Und auch da kamen die Täter nicht von der SA, sondern es waren – wie es heißt – ganz normale Leute.
Verstehen wir uns richtig: Es kann hier heute nicht um nachträgliche Beschuldigungen oder Schuldzuweisungen gehen, obwohl es natürlich schon interessant wäre zu erfahren, wie die damaligen Schüler späterhin mit dieser Erfahrung umgegangen sind, sie leben ja z. T. heute sicherlich als alte Menschen noch unter uns. Die damaligen Täter, Mitläufer und Nutznießer haben sich höchstpersönlich selbst mit Schuld beladen, wobei heute viele von Glück sagen können, dass sie damals nicht in Versuchung geführt wurden.
Heute der damaligen Ereignisse zu gedenken, sollte vor allem dazu anleiten, keinerlei Form der Ausgrenzung von Mitmenschen unter irgendwelchem Vorwand zu dulden. Der Handlungsbedarf ist heute größer denn je in den letzten Jahren: Fremdenfeindlichkeit hat in unserem Lande seit Jahren Konjunktur, und die Entwicklung gerade der letzten Wochen erzwingt erhöhte Aufmerksamkeit. Stigmatisierung hat für Betroffenen i.d.R. fürchterliche Konsequenzen. Nur für die Stigmatisierten? Stigmatisierung von Minderheiten, wenn sie von einer Mehrheit akzeptiert oder gar zu einem Element der offiziellen Politik wird, ist auch eine Katastrophe für die Mehrheitsgesellschaft: Das Empfinden dafür, was recht und was unrecht ist, wird zerstört, einen gesellschaftlichen Konsens über den Bedingungen des Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen gibt es nicht mehr. Wer hier und heute gleichgültig ist und schweigt, wenn Anstand oder gar einmal Zivilcourage gefragt oder gefordert sind, der hätte auch damals gleichgültig geschwiegen. Wer heute nichts wissen will, der hätte auch damals und besonders natürlich hinterher gewiss von nichts gewusst. Heute sind unweigerlich
  w i r verantwortlich, jetzt ist es an  u n s  , an jedem Einzelnen, an jedem an seinem Ort, die Weichen für die Zukunft ein für allemal so fest zu stellen, dass der Zug der Geschichte nicht wieder so grässlich entgleisen kann. In diesem Sinne lautet die Lehre der Geschichte: Erkennen und Erinnern, Lernen und Handeln, mit allen guten Kräften eine mitmenschlichere Welt zu verwirklichen suchen, im Kleinen wie im Großen an einer gerechteren und friedlicheren Lebensordnung in Deutschland, in der Welt mitwirken helfen, die Hass und Pogrome unmöglich macht.
Konkret heißt das heute aber auch: Politisch nicht abseits stehen, hellwach sein, wenn Ordnungspolitiker versuchen, die aktuelle Krisensituation zu benutzen, demokratische Freiheitsrechte als Folge von sogenannten Sachzwängen einzugrenzen oder gar zu zerstören.
Auch auf die Gefahr hin, dass man sich in diesen Zeiten verdächtig macht, wenn man zu viel vom Grundgesetz redet: Es schützt jeden „gegen die unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner Daten“. Das ist kein Satz aus dem Protokoll der Jahreshauptversammlung der Datenschützer, er stammt auch nicht aus dem Verhandlungspapier der Grünen zum Sicherheitspaket des deutschen Innenministers. Es handelt sich um die zentrale Stelle im Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983: Dort hat das höchste Gericht das Recht des Einzelnen „auf informationelle Selbstbestimmung“ formuliert.
Der Bundesinnenminister ist dabei, dieses Recht abzuschaffen. Aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird im „Sicherheitspaket zwei“ die Pflicht jedes Bürgers, informationelle Fremdbestimmung zu erdulden. Künftig wird dann, wenn der Entwurf wirklich Gesetz wird, kein Mensch mehr wissen, welche staatlichen Stellen über ihn wann, was, warum, wozu und wie lange gespeichert haben, was mit diesen Informationen geschieht, und wer darauf zugreift.
Dabei ist die innenpolitische Aufrüstung ohnedies schon weit gediehen. Rasterfahndung, Kontaktsperre und Beobachtende Fahndung, verdeckte Ermittler auch als Zeugen unter einer Legende, beschleunigtes Verfahren und erleichterte U-Haft, Vorbeugehaft, Kronzeugen, Anzeigenpflicht der Banken, elektronisches Belauschen, Überwachung der Auslandsgespräche, Verdachtsdateien, Schleierfahndung, Speicherung von Personen, die „nach ihrer Persönlichkeit“ in Zukunft eine Straftat begehen könnten, Ausweisung von Ausländern auf Verdachtsbasis. Das alles und vieles mehr gibt es bereits.
Und nun das Terrorismusbekämpfungsgesetz. Die Befürworter erklären immer: Kein anständiger Deutscher habe etwas zu verbergen. Erinnern wir uns daran: Weder in den Vereinigten Staaten noch in Großbritannien gibt es einen Personalausweis oder ein polizeiliches Meldewesen. Und beide Länder beabsichtigen um ihrer demokratischen Rechtstradition willen nicht, so etwas nun einzuführen. Das bewegt deutsche Politiker offensichtlich nicht.
Im Gegenteil: Es gibt Politiker, für die diese Maßnahmen noch nicht weit genug gehen. Sie fordern den neuen Sicherheitsstaat, in dem nach ihrer Meinung die Trennung von Bundeswehr, Polizei und Geheimdienst aufgehoben werden soll. Diese Trennung gehörte freilich bisher zu den rechtsstaatlichen Grundprinzipien – zu den Sicherungen der Bundesrepublik also. Es ist eine merkwürdige Art, für Sicherheit dadurch zu sorgen, dass man auf die Sicherungen verzichtet.
Kürzlich warnte der Bundesinnenminister davor, ihm bei seinen Plänen in den Arm zu fallen. Das ist falsch. Es ist unsere Pflicht, das zu tun, denn der Minister hat – wie dieser Tage Burkard Hirsch in einem Kommentar in der Süddeutschen Zeitung schrieb- die Balance verloren. Wir wollen eine Regierung, die Augenmaß bewahrt und Haltung. Die Bürger und das Grundgesetz sind keine Versuchskaninchen. Wir erwarten, dass der Bundestag einen solchen Gesetzentwurf nur auf der Grundlage einer sorgfältigen öffentlichen Anhörung berät und über ihr erst am Ende einer öffentlichen Diskussion entscheidet, nicht vor ihrem Beginn. Wir wollen verantwortungsbewusste Abgeordnete und keine kalkulierenden Wahlstrategen, die die Stellungen für den Wahlkampf 2002 ausheben.
Wer die Freiheit um der Sicherheit willen aufgebe, hat Benjamin Franklin gemahnt, der werde am Ende beides verlieren. Unsere Verfassung definiert die Freiheit von der Würde des Menschen her. „Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe jeder staatlichen Gewalt.“ Der Gesetzentwurf, gegen den sich die Notstandgesetze wie Träumereien am Kamin ausnehmen, erfüllt diese Aufgabe nicht.
Wehren wir uns also dagegen, unterstützen wir die politischen Kräfte, die dies verhindern wollen. Das ist oft mühsam, Rückschläge müssen oft hingenommen werden, es ist eine permanente Aufgabe für jeden politisch Denkenden. Und das war auch nie anders.
  Hans Sahl, geflohen aus dem nationalsozialistischen Deutschland, lässt sein alter ego Kobbe in seinem klassischen Emigrationsroman „Die Wenigen und die Vielen“, nachdem er mal wieder einen politischen Rückschlag erleben musste, auf die Frage: „Aber was soll denn nun geschehen?“ antworten: „Wieder von vorne anfangen. Alles noch einmal überprüfen, nichts für gegeben hinnehmen. Wachsam sein, ohne Vorurteile, gescheit und gütig zugleich und nie das eine ohne das andere, der Mehrheit misstrauen und der Minderheit dazu verhelfen, gehört zu werden, die Schwachen und Kranken beschützen und den Starken ein unbequemer Partner sein, immer wieder fragen und immer von neuem wissen, dass es nicht eine Antwort gibt, sondern viele, und dass nichts beständig ist, in diesem Meer der Ungewissheit.“
Meine Damen und Herren, Widerspruch leisten, heißt nicht, illoyal zu sein, sondern Widerspruch kann Ausdruck höchster Loyalität sein, gerade auch jetzt und heute. Liebe Anwesende,
wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.