Die vergessenen Opfer

Mit fadenscheinigen Begründungen verschleppt Südafrikas Regierung die Entschädigung für Gefolterte und Familien Ermordeter der Apartheid-Zeit

Von Hans Brandt (Johannesburg)

Die Apartheid-Polizei jagte Johan Titus eine Kugel in den Bauch. Jetzt hat er Plastikschläuche statt Därmen im Leib. Stunden vor seiner Hinrichtung für einen politischen Mord, den er nicht verübt hatte, wurde Duma Khumalo freigelassen - nach sieben Jahren in der Todeszelle. Riefaat Hattas hat zehn Jahre nach seiner Folter immer noch Albträume.

Alle drei warten seit Jahren auf die Entschädigungszahlungen, die Südafrikas Wahrheitskommission und die Regierung ihnen versprochen haben. "Ich brauche dringend Therapie", fleht Hattas. "Ohne Hilfe kann ich nicht mehr für meine Familie sorgen", klagt Titus. "Arbeitslos, als Mörder gebrandmarkt - wie soll ich da ein neues Leben anfangen?" fragt Khumalo.

Mehr als 15 000 Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen geht es ähnlich. Während ihrer Untersuchung der Apartheidzeit identifizierte die Kommission für Wahrheit und Versöhnung unter Vorsitz von Friedensnobelpreisträger Erzbischof Desmond Tutu zahlreiche Menschen, die besonders schwer misshandelt wurden. Um an die Wahrheit über die Gräueltaten zu kommen, wurde den Tätern eine Amnestie im Tausch für ein volles Geständnis versprochen. Die Opfer mussten akzeptieren, dass ihre Folterer niemals bestraft werden würden. Als Gegenleistung sollten sie und die Familien der Ermordeten entschädigt werden.

Schon vor mehr als drei Jahren stellten die Betroffenen bei der Wahrheitskommission Anträge auf finanzielle Hilfe. Im so genannten "Präsidentenfonds" sammelte die Regierung von Konzernen und internationalen Gebern mehr als 300 Millionen Rand (etwa 100 Millionen Mark) als Soforthilfe. Ausgezahlt wurde bisher nur ein Zehntel dieser Summe. Abgesehen von diesen "Notmitteln" empfiehlt die Wahrheitskommission, dass anerkannte Opfer sechs Jahre lang etwa 300 Mark monatlich erhalten. Dafür ist im Staatshaushalt noch kein Pfennig vorgesehen. "Die Regierung hat die Opfer im Stich gelassen", sagt der anglikanische Erzbischof Njongonkulo Ndungane. "Sie sind inzwischen genauso Opfer der Wahrheitskommission wie der Apartheid."

Der gesetzliche Auftrag der Entschädigung wird nicht erfüllt. Wilmot James von der Universität Kapstadt meint, dass es einfach keinen politischen Imperativ gibt, das Geld auszuzahlen. "Der Regierung drohen keine politischen Nachteile", sagt der Politologe. "Was würde schon passieren, wenn sie die Empfehlungen der Wahrheitskommission einfach ignoriert? Nichts."

Dutzendweise wurden die Täter, die Handlanger des Apartheid-Regimes, in den vergangenen Jahren für Folter, Mord und Bombenanschläge amnestiert. Zwar stellte die Wahrheitskommission ihre Arbeit vor zwei Jahren mit der Übergabe des Abschlussberichts an die Regierung zum größten Teil ein. Doch das Amnestie-Komitee, das jeden Antrag auf Straffreiheit untersuchen muss, tagt nach wie vor. Die ehemaligen Sicherheitspolizisten, Geheimdienstler und Elitesoldaten haben begriffen, dass die Kommission ihnen eine einmalige Gelegenheit bietet, den Rest ihres Lebens unbehelligt zu bleiben. Indessen fühlen sich die Opfer, die unter internationaler Anteilnahme vor der Kommission ihre grausame Misshandlung in der Apartheidzeit beschrieben, vergessen. "Wir haben uns doch nicht vorgedrängelt, um Geld zu fordern", sagt Khumalo. "Die Regierung und die Kommission haben uns von sich aus Entschädigung angeboten. Sie haben uns Hoffnung gemacht - und jetzt zahlen sie nichts."

Präsident Thabo Mbeki bestreitet, dass er die Apartheid-Opfer vergessen hat. "Wir werden unsere Versprechen einhalten", beteuerte er im Mai. "Aber das ist eine problematische Angelegenheit. Das braucht Zeit." Erst einmal müsse die Regierung den Abschluss der Amnestie-Anhörungen und damit das völlige Ende der Wahrheitskommission abwarten, meint Mbeki. Indessen befassen sich mehrere Ausschüsse mit der Formulierung genauer Richtlinien für Reparationszahlungen. "Wir tun dies in Konsultation mit den relevanten Ministerien", sagte Justizminister Penuell Maduna im September. "Wir hoffen, bald eine Ankündigung in diesem Zusammenhang machen zu können."

Das höre sich nach Verzögerungstaktik an, meinen Kritiker der Regierung. Tatsächlich lässt Finanzminister Trevor Manuel durchblicken, dass er die erheblichen Kosten der Reparationszahlungen von bis zu drei Milliarden Rand (eine Milliarde Mark) am liebsten vermeiden würde. "Wir haben nicht für finanziellen Gewinn gegen die Apartheid gekämpft", meinte er kürzlich. Und er implizierte, dass die von der Wahrheitskommission benannten Apartheidopfer keine Sonderbehandlung verdienten - auch wenn das Gesetz das vorsieht.

Die Gründung der Wahrheitskommission war ein zentraler Teil des Kompromisses zwischen weißer Minderheit und schwarzer Mehrheit, der zu Südafrikas vorbildlich friedlicher Demokratisierung führte. Weder sollte die blutige Vergangenheit unter den Teppich gekehrt werden, noch sollten schwierige Strafverfahren gegen Apartheid-Täter eine wirkliche Versöhnung jahrelang verhindern. Diese Form der Vergangenheitsbewältigung gilt inzwischen als weltweit beispielhaft - auch wenn der ehemalige Vizevorsitzende der Kommission, Alex Boraine, heute klagt, dass die Kommission im eigenen Land viel weniger Ansehen genießt als im Ausland.

Doch schon während der spektakulären Anhörungen von Gefolterten und Folterern wurde der zweite Teil des Kommissionsauftrags, die Entschädigung der Opfer, kaum beachtet. Als der Abschlussbericht der Kommission Ende 1998 auch Vorwürfe der Menschenrechtsverletzung gegen den regierenden Afrikanischen Nationalkongress (ANC) erhob, versuchte die Regierung sogar, das Dokument zu zensieren. Umso unbequemer waren deshalb die Empfehlungen für Reparationszahlungen.

"Die dauerhafte Grausamkeit des Apartheidsystems hat jeden Schwarzen in diesem Land gezeichnet", sagte Manuel. Wer könne schon Zehntausende für Zwangsumsiedlungen, alltäglichen Rassismus, minderwertige Bildung oder wirtschaftliche Unterdrückung entschädigen, fragte er. "Die schnelle Entwicklung unseres Landes ist die Entschädigung mit der größten Bedeutung." Auch die Wahrheitskommission räumte in ihrem Abschlussbericht ein, dass ein Gleichgewicht gefunden werden muss zwischen den Zahlungen an Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen und der Verantwortung des Staates für die Überwindung der Apartheidfolgen im Allgemeinen. "Doch der Staat hat die Pflicht, besonders schwer Betroffenen dabei zu helfen, ihre absolute Armut zu überwinden", betont der Bericht.

Solche Hilfe gibt es bisher kaum. Stattdessen müssen sich die Opfer selbst helfen. Duma Khumalo hat inzwischen endlich Arbeit - als Mitarbeiter der Organisation "Khulumani", die Apartheidopfer betreut. Hunderte Betroffene kommen mit Hilfe von Khulumani (das heißt "frei aussprechen") regelmäßig zusammen, um über die gemeinsamen Probleme zu reden. "Es ist einfach unfair, diese Leute so lange hinzuhalten", beklagt sich Ntombi Mosikare, stellvertretende Chefin von Khulumani. Die Gruppe hat sogar mit einer Klage gedroht, um die Regierung zur Zahlung von Reparationen zu zwingen.

"Reparationszahlungen sind doch nichts Ungewöhnliches", sagt Khumalo. "Die Juden werden mit Milliarden für ihre Verfolgung zur Nazi-Zeit entschädigt." Und: "Natürlich kann Geld die Toten nicht wieder lebendig machen" fügt Khumalo hinzu. "Aber es kann das Leben der Hinterbliebenen entscheidend verbessern, kann zum Beispiel die Zukunft unserer Kinder sichern. Wenn wir das nicht tun, bleiben auch die Kinder Opfer der Apartheid."


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