Die Initiative „Genug ist Genug“ hat der Redaktion ihren Redebeitrag auf der revolutionären Vorabenddemo geschickt und schreibt dazu: »Seit mehr als einem Jahrhundert wird innerhalb der Linken darüber debattiert, ob es eher durch Reformen oder eine Revolution gelingen kann, den Kapitalismus zu überwinden. Im Folgenden möchten wir eine längere Version unseres Redebeitrags zur Verfügung stellen, den wir am 30.04.2023 auf der revolutionären Vorabenddemo in Bochum gehalten haben. In diesem plädieren wir dafür, bestimmte Arten von Reformen nicht als Gegensatz, sondern Teil revolutionäre Praxis zu begreifen.
Um zu unseren Schlussfolgerungen zu kommen, zeigen wir – sicherlich unvollständig – historische Kontinuitäten der Diskussion über die Rolle der Arbeiterklasse für revolutionäre Politik in Deutschland auf. Auch wenn wir mit unserem Redebeitrag eine vermittelnde Rolle einnehmen, wollen wir so einen Debattenbeitrag zur Diskussion rund um „Revolution vs. Reformismus“ leisten, die bis heute sowohl innerhalb der Linken als auch innerhalb von Genug ist Genug geführt wird.
Ausgangspunkt: Konflikte zwischen der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung
Als erster Verfechter eines revolutionslosen Weges zum Kommunismus kann Eduard Bernstein bezeichnet werden. In seiner Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ von 1899 argumentiert er dafür, dass Kapitalismus und Demokratie kompatibel seien. Seine Schlussfolgerungen zog er auf Basis der sich im 19. Jhd. rapide verändernden Gesellschaft. Die Gründung von Gewerkschaften, die Einführung der repräsentativen Demokratie und der damit verbundene Bedeutungsgewinn der Arbeiterklasse deutete er als Zeichen dafür, dass eine starke Sozialdemokratie die negativen Auswüchse des Kapitalismus durch die Erlangung politischer Macht nach und nach unter Kontrolle bringen könne. Rosa Luxemburg erwiderte in ihrem Werk „Sozialreform oder Revolution“, dass die Ausweitung des Kreditsystem die krisenhafte Tendenz des Kapitalismus eher noch verschlimmern würde und es zu einer Expansion in bisher nicht-kapitalistische Weltregionen kommen müsse, um für neue Absatzmärkte zu sorgen und so in den Industrienationen weiter Wirtschaftswachstum zu gewährleisten. Nationale Befreiungsbewegungen würden daher Gefahr laufen, die internationale Arbeiterbewegung zu schwächen. Sowohl ihre Einschätzung, dass die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und seine imperialistische Expansion noch zunehmen werde, als auch die Vorhersage, dass die deutsche Arbeiterbewegung dabei eine fatale Rolle spielen würde, bestätigten sich in vielerlei Hinsicht: durch die Ausdehnung des Kolonialismus im ausgehenden 19. Jhd, durch die Wirtschaftskrise 1929 und die aktive Rolle der deutschen Sozialdemokratie bzw. großer Teile der Arbeiterklasse im 1. und 2. Weltkrieg sowie in der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus.
Aber trotz ihrer scharfen Kapitalismuskritik sprach sich auch Luxemburg nicht per se gegen die Teilnahme an Wahlen oder sozialpolitische Reformen aus. Vielmehr ging es ihr darum, dass Sozialreformen, die durch parlamentarische Repräsentation erlangt werden, in eine radikale Kritik des Kapitalismus eingebettet werden sollten, welche Zugang zu politischer Macht und eine grundlegende Transformation der ökonomischen Strukturen einfordert. Sie betrachtete Reformen neben der Möglichkeit, den eigenen Einfluss auf Bildung und Kultur auszudehnen, auch als Lernplattformen, die Fähigkeiten zur Entscheidungsfindung vermitteln und so auf das Erringen politischer Macht vorbereiten können. Diese Position spiegelt sich auch in ihrer Kritik an zentralisierten Modellen politischer Organisation wider, einschließlich ihrer Kritik am leninistischen Ansatz einer „Avantgarde des Proletariats“. Aus diesem Grund argumentierte sie, als Antwort auf Bernstein, dass Reformen nicht als „langwierige Revolution“ verstanden werden können. Reformen dienen vielmehr der Formierung einer aufstrebenden Arbeiterklasse und der Vorbereitung der Revolution.
Die reformistisch ausgerichtete Ideologie der Sozialdemokratie setzte sich gegen die kommunistische Kritik durch und trug in einer Zeit, in der die Revolution durch ein großes und relativ homogenes Industrieproletariat in greifbarer Nähe erschien, maßgeblich zu dessen Befriedung bei. Das wird nicht zuletzt im konterrevolutionären Agieren während der Novemberrevolution 1918/19 und der Beteiligung der SPD an der Ermordung von Rosa Luxemburg selbst deutlich. Der kommunistische Teil der Arbeiterbewegung konnte sich in Europa selbst während ihrer Hochzeit nicht flächendeckend gegen rechte und sozialdemokratische Kräfte behaupten, um einen dauerhaften Systemwechsel herbeizuführen.
Die Bedeutung der Verelendungstheorie und der K-Gruppen ab den 1968er Jahren
Umso verwunderlicher ist es, dass ein Großteil der Studentenbewegung in den 1960er Jahren, zum Zeitpunkt einer nach dem Nationalsozialismus kaum mehr existenten kommunistischen Arbeiterbewegung, immer noch der Idee anhing, eine Revolution stünde kurz bevor. Dadurch keimte die Diskussion von Reform vs. Revolution erneut auf. Nun waren es aber nicht sozialdemokratische Politiker*innen, die davon sprachen, dass man den Kapitalismus durch Reformen überwinden könne, sondern es waren die K-Gruppen und ihre Nachfolgeorganisationen, die das Engagement von Gewerkschaften und der Außerparlamentarischen Opposition zur Erneuerung des Universitätssystems von links als reformistisch und damit konterrevolutionär kritisierten. Viele fürchteten, dass weitere Verbesserungen der Lebensbedingungen der Arbeiter*innen, wie sie durch den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg in Westdeutschland begannen, den Kapitalismus stabilisieren würden, indem sie ihn erträglicher machten. Als Anhänger*innen eines orthodoxen Marxismus argumentieren die K-Gruppen mit der sogenannten „Verelendungstheorie“. Diese geht davon aus, dass eine zunehmende Verelendung der Arbeiterklasse unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen stattfindet und es ab einem bestimmten Punkt automatisch zu sozialen Unruhen und der Überwindung des Kapitalismus kommen würde. Ob die Prognose einer Verelendung der Arbeiterklasse sich aus den Werken von Karl Marx überhaupt herauslesen lässt, ist bis heute umstritten. Empirisch zu beobachten ist, dass die Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums im Zeitverlauf ansteigt, da die Kapitalist*innen Mehrwert abschöpfen. Der Gewinn der Besitzenden steigt immer schneller als der Teil des Gewinns, den die einzelnen Arbeiter*innen erhalten. Mit der vorherrschenden Konkurrenz zwischen Unternehmen geht außerdem eine Tendenz zur Bildung von Monopolen einher, welche die Konzentration noch verstärkt. Zumindest in Perioden mit Wirtschaftswachstum lässt sich aber auch zeigen, dass es in den kapitalistischen Staaten des globalen Nordens zu einem Anstieg der Reallöhne gekommen ist. Dadurch wurden große Teile der Arbeiterklasse an dem zunehmenden Wohlstand bis in die 1990er Jahre zumindest geringfügig beteiligt. Auch wenn die Reallohnentwicklung hinter dem Anstieg der Produktivität zurückbleibt, bestätigt sich zumindest die Theorie einer absoluten Verelendung nicht. Vielmehr kam es in zwischen 1960 und 1990 zu einer stetigen Verkleinerung und Ausdifferenzierung der Arbeiterklasse, sodass das revolutionäre Potenzial kleiner statt größer wurde. Für diesen Zeitraum kann höchstens von einer relativen Verelendung gesprochen werden, welche den Unterschied zwischen arm und reich vergrößert hat. Das Ausbleiben der absoluten Verelendung wird neben dem Wirtschaftswachstum unter anderem auch auf den Einfluss der Gewerkschaften und anderer sozialpolitischer Maßnahmen zur Umverteilung des Reichtums zurückgeführt. Es kann beobachtet werden, dass die Existenz starker Gewerkschaften, wie wir sie zum Beispiel in Frankreich vorfinden, mit einer stärkeren Korrelation zwischen Produktivität und Reallohn einhergeht. Das stützt auf der einen Seite die These, dass der Einsatz für sozialpolitische Reformen der Verelendung entgegenwirkt. Auf der anderen Seite stellt sich jedoch die Frage, ob eine Verelendung durch das Unterlassen von Umverteilung und Sozialpolitik wirklich eintreten würde oder ob nicht auch Liberale und Konservative aus Interesse am Fortbestehen des Kapitalismus Maßnahmen einziehen würden, die den sozialen Frieden bis zu einem gewissen Maß sichern. Und selbst wenn es zeitweise zu einer Verelendung kommt, dann muss diskutiert werden, warum das zur Stärkung der organisierten Arbeiterklasse und in Folge zur sozialen Revolution führen sollte.
Diese Fragen wurden sich bis zum Zusammenbruch der UDSSR jedoch kaum gestellt. Vielmehr reagierte die Linke zunächst resigniert auf die ausbleibende Verelendung. Die Reaktion fiel dabei in verschiedenen Teilen unterschiedlich aus. Während die RAF zu den Waffen griff, um selbst eine revolutionäre Situation zu schaffen und dabei kläglich scheiterte, schlossen sich, genau wie Anfang des 20. Jhd., einige andere der Sozialdemokratie und den Grünen an. Der größte Teil behielt zwar seine Hoffnung auf die Revolution, kehrte dem Klassenkampf jedoch ebenfalls den Rücken, um die politische Arbeit auf Felder, wie Frieden oder Anti-Atomkraft, auszurichten, die einen größeren unmittelbaren Erfolg versprachen. Im Verlauf der Zeit entstanden außerdem stärker auf sich selbst bezogene linke Subkulturen, wie die Autonomen oder die Hausbesetzerszene. Der Anschluss der DDR an Westdeutschland entfachte die Debatte über die richtige revolutionäre Strategie erneut. Einige Linke erhofften sich anfangs, dass die Genoss*innen aus dem Osten neuen Schwung in die westdeutsche Bewegung bringen würden und die wirtschaftlichen Herausforderungen bei der Integration des maroden staatssozialistischen Systems in die westdeutsche Ökonomie, die Arbeiterschaft jetzt endlich zu einer echten kommunistischen Revolution anspornen würde. Diese Hoffnungen wurden jedoch schnell enttäuscht. Vielmehr befeuerte die zunehmende Armut im Osten Deutschlands die rassistische Diskussion über das Asylrecht, die in den staatlich mehr oder weniger geduldeten Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen gipfelte. Zum wiederholten Male führten soziale Unruhen in Deutschland also nicht zur sozialen Revolution, sondern mündeten im Pogrom. Diese Entwicklungen am Beginn der 1990er Jahren markieren den Entstehungspunkt der Antideutschen.
Die Entstehung der Strömung der Antideutschen und ihre Kritik an der deutschen Arbeiterbewegung
Diese stellten die dringend benötigte Reflexion über die Entstehungsbedingungen von regressiven Einstellungen, wie Antisemitismus oder Rassismus, innerhalb der deutschen Arbeiterklasse in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Damit griffen sie nun die Frage auf, warum die Verelendung überhaupt zu einer revolutionären Situation führen sollte und sorgten für den Abschied von der Idee, dass eine gesellschaftliche Gruppe nur aufgrund ihrer sozialen Stellung als revolutionäres Subjekt angesehen werden kann. Der viel zitierten Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ von Moishe Postone steht stellvertretend für die Kritik an der deutschen Arbeiterbewegung. Er vertritt die These, innerhalb der deutschen Gesellschaft gäbe es einen historisch weit verbreiteten Antisemitismus, der – vereinfacht ausgedrückt – aus dem Nicht-Verstehen des Kapitalismus resultiert. Die rein ideologiekritisch ausgerichtete Strömung innerhalb der Antideutschen zog daraus den Schluss, dass es einer linken Bewegung ausschließlich darum gehen muss, eine konfrontative Stellung gegenüber der deutschen Allgemeinbevölkerung einzunehmen, um so besonders regressive Tendenzen zu erkennen und zu bekämpfen. Jegliche revolutionäre Bestrebungen die darüber hinausgehen, seien mit der Gefahr verbunden, erneut in ein Pogrom umzuschlagen. So schreibt die Antideutsche Aktion Berlin in ihrer Kritik an der revolutionären 1. Mai Demonstration: „Der Traum von einer Revolution war schon zu Zeiten der K-Gruppen längst ausgeträumt. Die Hoffnung, mit den alten Parolen jene vor dem Ofen hervorzulocken, die sich in den maßgeblichen Situationen für Deutschland und gegen den internationalen Klassenkampf entscheiden, ist ein Unterfangen, welches dem Kampf gegen die Windmühlen verblüffend ähnelt.“ Diese Art von Argumentation fällt ironischerweise hinter ihre eigene theoretische Basis zurück. Sie verkennt, dass gesellschaftliche Ungleichheiten die Entstehung von regressiven Einstellungen befeuern. Selbst Horkheimer und Adorno betonen im antideutschen Standardwerk, der Dialektik der Aufklärung, dass die Projektion von negativen Eigenschaften auf die Juden ein Produkt der „falschen gesellschaftlichen Ordnung“ ist. Nur ihre Überwindung biete langfristig eine Perspektive für eine Welt ohne Regression.
Agenda 2010: Privatisierung, Niedriglohnsektor und zunehmende Armut
Für eine Linke, welche die Utopie der sozialen Revolution noch nicht vollständig aufgeben will, stellt sich also heute die Frage, wie kapitalismuskritische Positionen gesellschaftlich wieder anschlussfähig gemacht werden können, ohne regressive Vorstellungen zu verstärken oder bei sozialdemokratischen Reformen stehen zu bleiben. Auch wenn es keine homogene Arbeiterklasse mehr gibt, die als genuin revolutionäres Subjekt taugt, sind Armut und Elend auch hierzulande seit den frühen 2000er Jahren wieder auf dem Vormarsch. Etwa jede fünfte Person in Deutschland lebt in Armut. Spätestens seit den frühen 2000er Jahren hat der Staat unter Federführung von SPD und Grünen mit der Agenda 2010 begonnen, Sozialleistungen drastisch zu kürzen und die Daseinsvorsorge zu privatisieren. Die Folgen lassen sich ganz konkret, zum Beispiel im Gesundheitssystem, beobachten: Schlecht bezahlte Arbeitskräfte werden für den Gewinn von privaten Unternehmen verschlissen. Unter den schlechten Arbeitsbedingungen haben nicht nur die Angestellten zu leiden, sondern alle, die auf Gesundheitsversorgung und Pflege angewiesen sind und sich keine Privatversicherung leisten können.
Die Idee der „nicht-reformistischen Reformen“
Um aus der Vereinzelung herauszukommen und das kollektive Interesse der Lohnabhängigen, das in vielen Lebensbereichen existent ist, zu einem neuen Klassenbewusstsein zu formen, bietet die Idee der „nicht-reformistischen Reformen“ bzw. des „revolutionären Reformismus“ einen gewinnbringenden Ansatz. Darunter verstehen André Gorz und Ralph Miliband Reformen, die nicht isoliert für sich stehen, sondern mit der Vision eines revolutionären Fernziels verbunden sind [1]. Sie betonen, dass Reformen den Anspruch verfolgen sollten, weitere größere Reformschritte zu erleichtern. Dazu müsse jede Reform das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit zugunsten der Arbeitenden verschieben und diese politisch aktivieren: „Es genügt nicht mehr, vom Sozialismus zu sprechen, als verstehe sich von selbst, dass er notwendig ist. Heute muss eine Bewegung genau sagen, was er bringen, welche Probleme er lösen kann und wie er sie lösen kann. Mehr denn je ist es notwendig, zugleich eine positive, umfassende Alternative zu formulieren und gleichzeitig die Vermittlungen zu bestimmen, die heute schon den Sinn und den Inhalt dieser umfassenden Alternative greifbar machen.“
Das Konzept weist darauf hin, dass Gesellschaften nicht erst kapitalistisch sind und dann irgendwann auf einen Schlag kommunistisch werden. Vielmehr erreichen sie verschiedene Grade, gemessen daran, wie stark das Alltagsleben wirtschaftlichen Interessen unterworfen ist und wie handlungsfähig die große Klasse der Lohnabhängigen gegenüber der kleinen Klasse der Kapitalbesitzer*innen ist. Wie bereits von Luxemburg beschrieben, kommt es für das Schaffen einer revolutionären Situation darauf an, durch Reformen einerseits die Lohnabhängigen sozial und politisch zu stärken und andererseits die Besitzenden sozial und politisch zu schwächen. Denn die Ausgangsposition der Lohnabhängigen ist nicht nur aufgrund der momentan schwachen Organisierung schlecht, sondern auch ganz grundsätzlich. Denn ihr Job und damit der Lebensunterhalt hängt von den Profiten der sie beschäftigenden Unternehmen ab. Das führt dazu, dass Beschäftigte schlechte Arbeitsbedingungen hinnehmen, Überstunden nicht aufschreiben, stagnierende Löhne akzeptieren und sich nicht gegen übergriffige Chefs zur Wehr setzen. Außerdem reduziert der Zwang zur Lohnarbeit die zeitlichen Kapazitäten, die verfügbar sind, um sich politisch zu bilden und aktiv zu werden. Das wiederum stärkt den Einfluss des Systems der Berufspolitiker*innen, das primär dazu da ist, den Wirtschaftsstandort zu stärken.
Durch die finanzielle Abhängigkeit von der eigenen Arbeitsstelle stehen die Lohnabhängigen ebenfalls in Konkurrenz zueinander. Ihre Erpressbarkeit variiert dabei vor allem entlang ihrer Qualifikation: Höher Qualifizierte haben eine größere Verhandlungsmacht, weil ihre Fertigkeiten schwerer ersetzbar sind. Durchschnittlich und gering Qualifizierte sowie Arbeitslose – unter ihnen viele Migrant*innen und Frauen – haben hingegen viel weniger Spielraum. Alle möglichen Formen von Herrschaft sind hier zu einem Knoten verschlungen. Herkömmliche Reformen setzen an den Symptomen dieser Missverhältnisse an, indem sie etwa Lohndifferenzen durch Umverteilung abmildern oder bestimmte Formen der Diskriminierung verbieten. Doch das löst den Knoten nicht, weil die Lohnabhängigen erpressbar bleiben und kann von den Repräsentant*innen der Besitzenden sogar dazu genutzt werden, linke Bewegungen aktiv zu schwächen. Das zeigt das berühmte Beispiel der Schaffung des deutschen Sozialstaats durch Otto von Bismarck, in dem er die Einführung der Sozialversicherungen mit dem Verbot sozialistischer und kommunistischer Vereinigungen verband.
Von einer erfolgreichen Reform lässt sich dann sprechen, wenn Güter und Dienstleistungen der Herrschaft des Marktes entzogen und stattdessen nach demokratischen Prinzipien verteilt werden. Ein Beispiel für solche Reformen ist die Vergesellschaftung von Betrieben der Daseinsvorsorge: etwa von Krankenhäusern, Wohnungskonzernen oder Energieversorgern. Denn dann wird dem Kapital seine zentrale Machtquelle entzogen: die private Verfügung über die Versorgung der Bevölkerung. Stattdessen ermöglicht die Vergesellschaftung von Betrieben zunächst die Bereitstellung öffentlicher Güter, unabhängig vom Einkommen. Darüber hinaus können im Prozess der Vergesellschaftung demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten geschaffen werden. Neben dem positiven Signal, was davon für andere Kämpfe ausgeht, bedeutet ein Mehr an demokratischer Mitbestimmung immer auch, Vorformen einer postkapitalistischen Selbstorganisierung entwickeln und auszuprobieren zu können. Orte, an denen das heute im Kleinen schon möglich ist, sind beispielsweise im Kollektiv verwaltete Kleinbetriebe und Polikliniken oder auch selbstorganisierte Hausprojekte. Sie dienen als Freiräume der Analyse und Organisation. Von ihnen ausgehend kann konkrete Kritik auf andere Teilbereiche der Gesellschaft ausgedehnt und gleichzeitig auf die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft in Gänze zurückbezogen werden. Eine Revolution, als finaler Akt der sozialen Umwälzung, die am Ende einer Reihe an nicht-reformistischen Reformen steht, ist so möglich.
Das Eintreten für eine solidarische Gesellschaft, in der alle zusammen für das gute Leben kämpfen, bedeutet für uns heute also, uns für nicht-reformistische Reformen, vor allem die Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge einzusetzen. Wir wollen gesellschaftliche Teilbereiche unter die Kontrolle der Lohnabhängigen bringen und so einer Demokratie näherkommen, die ihrem Begriff gerecht wird. Eine Revolution, die als finaler Akt am Ende dieser Reformen steht, können wir auf diese Weise wieder zurück in unser Blickfeld rücken!
Verweis
[1] Für die Darstellung des Konzepts der „nicht-reformistischen Reformen“ bzw. des „revolutionären Reformismus“ wurde neben verschiedenen Originaltexten von Miliband und Gorz auch auf die Artikel „Die Strategie der großen Schritte“ von Linus Westheuser aus der Ausgabe des Jacobin-Magazins von Dezember 2021 sowie die Übersetzung des Textes „Die nicht-reformistischen Reformen von André Gorz“ von Mark Engler und Paul Engler durch Franziska Heinisch aus der Ausgabe des Jacobin-Magazins von August 2021 zurückgegriffen und besonders anschauliche Passagen wörtlich übernommen.«