Donnerstag 31.12.20, 09:41 Uhr
Erinnerungen an das Hintertreiben einer Verkehrswende vor 20 Jahren

Kommt 2021 eine Wende in der Bochumer Verkehrspolitik?


Ende des letzten Jahrtausends: Gif-Animationen für eine Verkehrswende

WAZ-Redakteurin Sabine Vogt schrieb kürzlich im Bochumer Lokalteil in einem Artikel mit dem Titel „Bochumer Anwohner kämpfen jeden Sonntag für Straßenbäume“ über den Ausbau der Straße Am Kesterkamp: „Bei der Fahrbahn erfolgt ein Vollausbau; sie wird aufgeteilt in zwei Fahrspuren von je drei Metern Breite. Zudem wird es, wie bei jedem Straßenausbau üblich, wo genügend Platz bleibt, Radfahrstreifen geben.“ Besser kann man das Verkehrskonzept der Stadt Bochum in den letzten 20 Jahren in Bochum kaum charakterisieren: „Üblich sind Radfahrstreifen, wo genügend Platz bleibt!“ Bei der Planung wird zunächst an den fließenden MIV* gedacht, dann an die Parkplätze, dann an den Fußweg und sollte noch Platz sein, wird der Radverkehr bedacht. Das Bochumer Radwende-Netzwerk will das ändern und wird mit einem Bürgerbegehren im nächsten Jahr einen Radentscheid herbeiführen, der die Stadt verpflichtet, alle Verkehrsteilnehmenden gleich zu behandeln.

Das bedeutet z. B., dass auf allen Straßen sichere Radwege gebaut werden. Muss aus Platzmangel der Verkehrsraum gemeinsam genutzt werden, dürfen Rad- und Autofahrer*innen nicht schneller als 30 km/h fahren. Ähnliche Radentscheide sind in anderen Städten bereits erfolgreich gelaufen. Näheres. Ein solcher Entscheid oder ein Ratsbeschluss, der ihn überflüssig machen soll, ist allerdings nur ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Die entscheidende Auseinandersetzung findet anschließend statt, wenn es darum geht, eine andere Verkehrspolitik real umzusetzen. Vor ziemlich genau 20 Jahren hat es die Bochumer Verwaltung nämlich schon einmal geschafft, ein vom Rat der Stadt beschlossenes Radverkehrkonzept solange zu torpedieren, bis SPD und Grüne einknickten und auch der außerparlamentarische Druck resignierte.

Zwischen April 1998 und August 2001 organisierte das Bochumer „Bündnis umweltfreundlicher Stadtverkehr“ (BUS) 40 monatliche Fahrraddemonstrationen, machte viele konstruktive verkehrspolitische Vorschläge und erzeugte einen beachtlichen Druck gegen eine ausschließlich am Auto orientierte Politik. Bochum definierte sich damals als Autostadt. Opel war ein angesehenes Unternehmen.

Das Radverkehrskonzept hatte der Rat vor der Kommunalwahl im September 1999 beschlossen. Für erste konkrete Maßnahmen wurden Gelder bereit gestellt. Bei der Wahl verlor die SPD ihre jahrzehntelange absolute Mehrheit. Die Grünen wurden Koalitionspartner und akzeptierten im Verkehrsbereich die Verlängerung der DüBoDo-Autobahn und den Bau einer unsinnigen U-Bahntrasse unter der Bongardstraße. Das Radverkehrskonzept wurde dagegen anfangs ernst  genommen. Die SPD war für das Radverkehrsabkommen gewonnen worden, weil die BUS-Aktivist*innen die Auto-fixierten Sozialdemokrat*innen davon überzeugten, dass Autofahrer*innen sich viel wohler fühlen, wenn Radfahrer*innen nicht mehr auf der gemeinsamen Fahrbahn stören, sondern eine eigene Trasse bekommen.

Doch fünf Monate nach der Wahl sah es – wie häufig nach einer Wahl – ganz anders aus.  In einer Presseerklärung des BUS hieß es unter der Überschrift „Radverkehrskonzept vor dem Aus?“: „Der Haushalt 2000 enthält bisher kaum Geld für Radwege!“ Es stellte sich raus, dass die Verwaltung im Vorjahr die geplanten Gelder für den Radwegebau nicht eingesetzt hatte und nun auch nur einen Bruchteil der im Radwegekonzept beschlossenen Mittel für das laufende Jahr einplante. Das Bündnis ließ aber nicht locker und auch die rot-grüne Koalition zeigte sich gewillt, sogar öffentlich in Konfrontation zu OB Stüber und der übrigen Verwaltung zu gehen. Tom Jost berichtete im März 2000 in einem WAZ-Artikel unter der Überschrift „Rot-Grün tritt in die Pedale: 1,5 Mio für Radwege“: „Noch bevor die Mittel durch den Ratsbeschluss im Juni endgültig freigegeben werden, will sich Rot-Grün mit dem alternativen Verkehrsverbänden an einen Tisch setzen, um die Reihenfolge der Maßnahmen zu besprechen. Denn Verwaltungsmitarbeiter, die stets mit dem Auto zum Dienst kommen, sind in den Augen der Politiker nicht immer die besten Ratgeber.“

OB Stüber wusste aber, dass die SPD nicht geschlossen hinter dem Radverkehrsplan stand und die Grünen auch alle anderen Kröten vorher geschluckt hatten. Sie wollten nicht zurück in die Opposition. Die Verwaltung freute sich, dass die Grünen nun in den städtischen Machtapparat integriert waren und keine linke Opposition mehr störte. Die CDU stand geschlossen hinter Stübers Auto-fixierter Politik. Also ging er in die Offensive und bremste mit der Verwaltung die Pläne des Radverkehrskonzeptes aus. Stellen in der Verwaltung, die für die Planung wichtig waren, blieben vakant. Finanzierungsanträge an das Land wurden nicht gestellt, die Fahrradbeauftragte vergrault… Stüber konnte sich das leisten. Es war seine letzte Amtszeit. Er musste nicht um eine Wiederwahl bangen.

Es kam schließlich zum Showdown. Der Agenda-Beirat hatte 2000 beschlossen, dass Bochum sich am europaweiten autofreien Aktionstag beteiligen soll. Rot-Grün hatte die Anregung aufgenommen und einen entsprechenden Ratsbeschluss gefasst. Otto Stüber und die Verwaltung weigerten sich völlig unverhohlen, das umzusetzen. Die Schilderung dieser Geschichte würde völlig den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Eine Chronologie der Ereignisse wurde 2001 in einem bo-special von bo-alternativ.de dokumentiert: „22.9.: autofreier Tag – Eine Auseinandersetzung in Bochum

Das Radverkehrskonzept war damit auch versenkt. Alle wussten, wie destruktiv die Verwaltung jeden verkehrspolitischen Vorschlag angeht, der nicht den absoluten Vorrang des MIV akzeptiert. Gelegentlich wurde dann noch in den folgenden beiden Jahrzehnten im Rat an das Radverkehrskonzept erinnert und seine Fortschreibung beschlossen, diese dann von der Verwaltung verschleppt, Jahre später wieder beschlossen und wieder verschleppt.

Erst mit der Gründung des Radwende Netzwerkes ist wieder soviel öffentlicher Druck in Bochum entstanden, dass die Politik verkehrspolitisch reagieren muss. Gleichzeitig zeigen internationale Vorbilder auf, wie viel Aufenthaltsqualität Städte gewinnen, in denen Verkehrsplanung und Stadtentwicklung sich nicht mehr in erster Linie am MIV orientieren.

Der zweiter Anlauf für eine Verkehrswende in Bochum hat also günstige politische Rahmenbedingungen. In den letzten Monaten ist außerdem eine starke Bewegung entstanden. Von anderen Städten kann gelernt werden, wie erfolgreich agiert werden kann. Zumindest der Radentscheid hat beste Aussichten auf Erfolg.

In ein paar Jahren steht dann vielleicht in der Lokalpresse: „Bei der Planung des Ausbaus der Karl-Freiherr-von-Drais-Straße wurde wie üblich zunächst überlegt, wie die vorhandene Verkehrsfläche sinnvoll aufgeteilt werden sollte, damit sich alle Verkehrsteilnehmer*innen, sicher und zügig bewegen können.“

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*MIV: Motorisierter Individualverkehr