Wille zu strafen
Von Ralf Feldmann
In einer Trauergemeinde von fünf Menschen gedachte Hannes Bienert am 9. November
2004 am Ort der früheren Synagoge in Wattenscheid der Opfer der Reichspogromnacht von 1938, ohne dies der
Polizei vorher anzuzeigen. Dafür verurteilte ihn das Amtsgericht Bochum zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen
zu je 15 Euro wegen Verletzung des Versammlungsgesetzes, weil man eine öffentliche Versammlung anmelden muss
und nach herrschender Rechtsansicht bereits drei Menschen eine Versammlung bilden. Das Landgericht Bochum hat seine
Berufung nicht angenommen und ohne erneute mündliche Verhandlung als unzulässig verworfen. Zur Geldstrafe
kommen nun Verfahrenskosten von weit über 1000 Euro.
Hannes Bienert versäumte die Anmeldung der Kranzniederlegung, weil er rechtsirrig annahm, die von ihm erwartete
Kleingruppe sei keine Versammlung. Darin fühlte er sich deshalb bestärkt, weil er auch bereits im Jahr
2003 ein ähnliches Gedenken in kleinem Kreis initiiert hatte, ebenfalls unangemeldet, ohne dass die Polizei
eingeschritten wäre oder gar ein Strafverfahren eingeleitet hätte. Strafrechtlich ist dies ein Verbotsirrtum,
der die Schuld ausschließt und zum Freispruch führt, wenn er unvermeidbar war. Für eine Verurteilung
muss zweifelsfrei feststehen, dass der Irrende den Verbotsirrtum nach seinen Erkenntnismöglichkeiten vermeiden
konnte.
Dass bereits drei Menschen für eine Versammlung ausreichen sollen, wissen meist nur im Versammlungsrecht spezialisierte
Juristen. Amts- und Landgericht halten den Irrtum vor allem deshalb für vermeidbar, weil Hannes Bienert in
den Jahren vor 2003 am 9. November mehrfach Gedenkversammlungen mit 100 bis 200 Teilnehmern, vorwiegend Schulklassen,
durchgeführt und diese auch angemeldet habe. Deshalb sei ihm zuzumuten gewesen, sich durch Erkundigung darüber
Gewissheit zu verschaffen, ob dies auch für eine Kranzniederlegung im voraussichtlich intimen Kreis von 5
Personen gelte. Dieser Schluss von der erkannten Anmeldebedürftigkeit einer Versammlung mit mehr als 100 Teilnehmern
auf die erkennbare Notwendigkeit und Zumutbarkeit von Erkundigungen zur Rechtslage eines Gedenkens in kleinem Kreis
ist ein Kurzschluss, ohne dafür tragfähige Argumente zu benennen. Näher liegende und lebensnähere
Rückschlüsse aus dem festgestellten Sachverhalt werden weder erwogen noch ausgeschlossen.
Die Anmeldungen "großer" Versammlungen in den Vorjahren erweist zunächst, dass Hannes Bienert
solche Ereignisse angezeigt hatte, die in seiner nicht juristischen Wertung zweifelsfrei Versammlungen waren und
polizeilicher Begleitung bedurften. Daraus ist weiter der Schluss zu ziehen, dass er sich bei öffentlicher
politischer Betätigung durchaus an das Versammlungsrecht hält. Für das Gegenteil - etwa die bewusste
Missachtung des Rechts aus einer irrational rechtsfeindlichen Gesinnung - ist nichts ersichtlich. Wenn jemand aber,
wie seinem Verhalten in der Vergangenheit zweifelsfrei zu entnehmen ist, das Versammlungsrecht achtet und respektiert,
gleichwohl eine Kranzniederlegung im kleinen Kreis nicht anmeldet, dann lässt das bei lebensnaher Betrachtung
nur den Schluss zu, dass er ohne Problembewusstsein darüber handelte, dass die rechtliche Situation unklar
und damit aufklärungsbedürftig sei. Ein solches Bewusstsein ist aber denklogisch und verhaltenspsychologisch
die Grundvoraussetzung dafür, einem Angeklagten vorwerfen zu können, er habe sein Gewissen nicht unter
Einsatz all seiner Erkenntniskräfte und sittlichen Wertvorstellungen eingesetzt, um den Verbotsirrtum zu vermeiden.
Die Gerichte setzen sich in keiner Weise damit auseinander, was Hannes Bienert hätte veranlassen können,
Rechtsrat nicht einzuholen und die Versammlung nicht anzumelden, wenn er die Notwendigkeit dazu auch nur ansatzweise
erahnt hätte. Seit 16 Jahren war die jährliche Erinnerung an die Reichspogromnacht für ihn ein
politisches Kernanliegen und eine Herzensangelegenheit. Warum hätte er es durch Missachtung des Versammlungsrechts
gefährden oder in Misskredit bringen und sich strafrechtlicher Verfolgung aussetzen sollen?
Das für die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums notwendige Problembewusstsein über eine rechtlich unklare
und damit aufklärungsbedürftige Situation musste sich für ihn auch nicht aus anderen Umständen
aufdrängen. Eine Kranzniederlegung im kleinen Kreis von fünf Personen gleicht bei laienhafter rechtlicher
Wertung einem gemeinsamen Gang zum Friedhof, nicht aber einer Versammlung, bei der man an das Versammlungsgesetz
denkt. Es kann nach alledem nicht gegen alle Vernunftgründe kurzerhand zu Lasten des Angeklagten unterstellt
werden, aus der Anmeldung der großen Versammlungen in den Vorjahren habe er für die Anmeldung einer
Kranzniederlegung im kleinen Kreis zumindest das Problembewusstsein für eine gleichfalls bestehende Anmeldepflicht
gehabt und deshalb den Verbotsirrtum durch Erkundigung vermeiden können. Dies um so weniger, als eine ähnliche
unangemeldete öffentliche, von der Polizei wahrgenommene Veranstaltung im Jahr davor völlig unbeanstandet
geblieben war. Das Argument des Landgerichts, die Versammlung im Jahr 2003 sei eben auch bereits rechtswidrig und
strafbar gewesen, verfehlt den Kern des Problems. Jene Versammlung blieb sanktionsfrei: Wie sollte Hannes Bienert
danach zu der Erkenntnis gelangen, dass ein ähnliches Gedenken ein Jahr später versammlungsrechtswidrig
und sogar strafbar wäre. Musste er klüger sein als aus seiner Sicht die Polizei?
Vermeidbar wäre der Verbotsirrtum allerdings gewesen, wenn die Polizei als Versammlungsbehörde ihn durch
entsprechenden Hinweis aufgeklärt hätte. Die Kranzniederlegung war in der Lokalpresse angekündigt
worden. Auch das unangemeldete Vorhaben stand unter dem Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit gemäß
Art 8 GG. Bürger, die sich öffentlich frei versammeln wollen, haben dabei Anspruch auf Hilfe und Förderung
durch eine grundrechtsfreundliche Polizei als Versammlungsbehörde. Sie darf etwa nicht angemeldete Versammlungen
nicht allein deshalb auflösen, sondern nur, wenn sonst die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet
wäre. Versammlungsrechtliche Defizite, die ein Veranstalter ausräumen kann, muss sie grundrechtsfreundlich
und kooperativ mit ihm zu beheben versuchen, damit die Versammlung im Einklang mit dem Recht stattfinden kann.
Dazu gehört es, auf eine Anmeldung hinzuwirken, wenn ein Veranstalter deren Notwendigkeit offenbar rechtsirrig
übersehen hat. Das ist in Bochum durchaus schon geschehen. Ein Telefonanruf hätte genügt, diese
Formalie wie in den Jahren der "großen" Versammlungen zu regeln. Bleibt indes ein für die
Versammlungsbehörde erkennbarer Verbotsirrtum eines Bürgers aufrecht erhalten, weil sie die gebotene
und zumutbare Aufklärung darüber unterlässt, dann ist er für den irrenden Bürger unvermeidbar
im Sinne des § 17 StGB. Es wäre für einen Rechtsstaat nicht nur widersprüchlich sondern unerträglich,
versammlungsrechtliche Unterstützung zu versagen, um dann zu strafen.
Das Erinnern an das dunkelste Kapitel unserer Geschichte, das Hannes Bienert jedes Jahr in Wattenscheid am 9. November
wach hält, ist engstens verknüpft mit dem Grundanliegen unserer Verfassung. Die Würde des Menschen
galt im nationalsozialistischen Deutschland nichts: Art. 1 GG erklärt sie für unantastbar, "damit
die Nacht nicht wiederkehrt", wie es auf einem Transparent hieß, das die kleine Gruppe mit sich führte.
Die Würde des Menschen zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Eine Versammlung im Geist
der Grundintention unserer Verfassung ist deshalb nicht nur, wie das erstinstanzliche Urteil, ohne die Bedeutung
für den Verbotsirrtum auszuloten, allein bei der Strafzumessung zurückhaltend festhält "insgesamt
billigens- und unterstützenswert", sondern hat mehr noch als andere Demonstrationen einen besonderen
Anspruch auf Hilfe und Förderung der Polizei als Versammlungsbehörde. Hätte Hannes Bienert diese
Hilfe erhalten, gäbe es kein Strafverfahren gegen ihn.
All diese tatsächlichen Zweifel und rechtlichen Einwände gegen die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums
bleiben in den Gerichtsentscheidungen ausgeblendet. Das Bedürfnis, einen 78-Jährigen Rentner nach der
Erinnerung an die Reichspogromnacht zu strafen, war offenbar übermächtig.
Dies führt über die Kritik an der fehlerhaften Beurteilung des Verbotsirrtums hinaus zum grundsätzlichen
Einwand gegen die Durchführung dieses Strafverfahrens. Er richtet sich dagegen, dass es im vorliegenden Fall
entgegen § 153 StPO überhaupt zu einer Anklageerhebung und der Eröffnung des Hauptverfahrens gekommen
ist. Danach kann die Staatsanwaltschaft - im späteren Verfahren mit Zustimmung des Gerichts - von der Verfolgung
absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an
der Strafverfolgung besteht. Mit dieser Vorschrift ist das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Verbot unverhältnismäßigen
Strafens aus dem Grundgesetz in die Strafprozessordnung übertragen worden. Als Kann-Vorschrift deutet die
Bestimmung zwar einen Ermessensspielraum für Staatsanwaltschaft und Gericht an. Da unverhältnismäßiges
Strafen aber gegen das Rechtsstaatsprinzip verstieße, schrumpft der Ermessenspielraum bei geringer Schuld
regelmäßig auf Nichtverfolgung als einzig rechtmäßige Entscheidung. Der vorliegende Fall
wäre, wenn sich Hannes Bienert wegen Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums überhaupt strafbar gemacht hätte,
geradezu ein Musterbeispiel geringer Schuld. Davon gehen Gericht und Staatsanwaltschaft, wie es auch das Urteil
unterstreicht, übereinstimmend aus. Dass angesichts der Intention der Versammlung und des Fehlens irgendeines
gesellschaftlichen Schadens keinerlei öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung besteht, ist ebenfalls
unstreitig. Dann verstoßen Anklageerhebung und Eröffnung des Verfahrens aber gegen das in § 153
StPO normierte Verbot unverhältnismäßigen und deshalb verfassungswidrigen Strafens. Staatsanwaltschaft
und Gericht müssen sich vor diesem rechtlichen Hintergrund durchaus den in der öffentlichen Kritik an
diesem Verfahren erhobenen Kernvorwurf gefallen lassen, dass sie - entgegen einer von ihrem Ausgangspunkt zwingenden
Sachbehandlung nach § 153 StPO ohne Strafverfolgung - das Gedenken an die Reichspogromnacht kriminalisiert
und damit die Rechtskultur beschädigt haben. Ein weises Berufungsgericht hätte die Rechtsfehler durch
Anklageerhebung und Verfahrenseröffnung mit dem Angebot einer Einstellung bei Kostentragung der Staatskasse
zu korrigieren versucht. Dagegen stand der Wille zu strafen.
Nach dem öffentlichen Protest Bochumer Bürger an den Leitenden Oberstaatsanwalt Schulte wegen der Anklageerhebung
war die Sache für die Bochumer Justiz zur Kopfsache geworden. Prominentere Fürsprache bei Generalstaatsanwalt
Proyer in Hamm blieb ebenso folgenlos. Hannes Bienert habe - so die Strafurteile - sein Gewissen nicht genügend
angespannt und seine sittlichen Wertvorstellungen nicht eingesetzt um zu erkennen, dass eine Kranzniederlegung
zu fünft im Gedenken an die jüdischen Opfer der Nazibarbarei den Gang zur Polizei voraussetze. Welche
Anspannung des Gewissens und welche sittlichen Wertvorstellungen lässt dagegen diese Strafverfolgung erkennen?
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