Kantor Frank Yaàkov Barth
am 9. November 2005
vor der Gedenktafel
für die zerstörte Synagoge in Wattenscheid

 
9. November 2005
Am 3. November 2005, also vor einer knappen Woche, fällte ein Amtsrichter in Bochum ein Aufsehen erregendes Urteil: Weil ein Bochumer Bürger vergessen hatte, die Gedenkveranstaltung am Platz der vor 67 Jahren niedergebrannten Synagoge mit insgesamt 5 Teilnehmern bei der Polizei anzumelden, verurteilte ihn der Strafrichter Pattard zu einer Geldstrafe von 150 Euro.
Verehrte Anwesende,
damit Sie mich nicht falsch verstehen: keinesfalls heiligt der Zweck alle zu seiner Erreichung anstehenden Mittel, und auch eine Gedenkveranstaltung wie diese hier ist kein rechtsfreier Raum.
Und dennoch lässt das Urteil von Bochum aufhorchen: Ein deutscher Richter - in der Manier eines Ronald Schill in Hamburg - stuft das ehrende Gedenken an den gewaltigsten je von einem deutschen Staat begangenen Rechtsbruch auf die Ebene einer x - beliebigen Demonstration hinab.
Gerade so, als notierte man auf einem Kalenderblatt alle wichtigen Ereignisse, die jemals an einem 9. November in Deutschland stattgefunden haben ungeachtet ihrer geschichtlichen Bedeutung in einer beliebigen Abfolge.
Am 9. November 1918 erscheint der 450.000. Band des Kinder- und Jugendromans „Heidi" von Johanna Spyri, der Generationen von deutschen Kindern prägte.
Am 9. November 1848 wird der Abgeordnete der deutschen Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche, Robert Blum, in Wien unter Missachtung seiner Immunität zum Tode verurteilt und standrechtlich erschossen.
Am 9. November 1917 beschließt die Intendanz der Metropolitan Opera, New York, wegen der Teilnahme Deutschlands am Ersten Weltkrieg bis auf weiteres keine deutschsprachigen Stücke mehr aufzuführen.
Am 9. November 1911 veröffentlichen führende deutsche Industrielle einen Aufruf zur „Weiterarbeit an Deutschlands kolonialer und wirtschaftlicher Zukunft".
Am 9. November 1918 erinnern wir uns an das Ende der Märzrevolution in den Staaten des Deutschen Bundes. Und an die Ausrufung der ersten deutschen Republik.
Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin, und die Deutsche Demokratische Republik ging in der Bundesrepublik auf.
Ach ja, und am 9. November 1938 zerstörte der staatlich gelenkte Terror des nationalsozialistischen Deutschlands Hunderte von Synagogen, jüdischen Geschäfte und Wohnungen. Hunderte von Juden, deutsche Staatsbürger, wurden von den Schergen des deutschen Terrorregimes geschlagen, gehenkt, erschossen. „Schutzhaft" nannten deutsche Richter zynisch ihre skrupellose Tat an den wehrlosen Opfern.
Nach 67 Jahren, so möchte man meinen, ist der Schrecken des 9. November 1938, der so genannten „Reichspogromnacht" verblasst.
Überlagert vom ozeanischen Rausch der Freude über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und über das gnädige Verdrängen bis hin zum Vergessen des bis dahin größten Schurkenstreichs einer bejubelten deutschen Regierung - der 9. November 1938 hätte wahrlich das Zeug zum Museumsstück im Haus der Geschichte.
Und so muss es auch der Bochumer Richter Pattard verstanden haben, der das Nichtanmelden der Gedenkveranstaltung zum 9. November 1938 in seelenloser Paragraphenreiterei kriminalisierte.
Dass der 9. November 1938 als Tag des staatlich gelenkten Terrors gegen uns Juden im Bewusstsein der Bundesrepublik zunehmend verblasst, sehen Sie, verehrte Damen und Herren, selbst. Was soll man an diesem Tag machen, wie kann oder soll Betroffenheit vermittelt werden?
Bedarf es eines Juden am Gedenkstein, bedarf es ein paar Mahnlichter in den gepflegten Ruinen der ehemaligen Synagoge?
Unsere jüdische Tradition kennt eine ganze Reihe von schrecklichen Ereignissen, die später zu Gedenktagen wurden:
- die Verschwörung des bösen Haman im persischen Kaiserreich
- daraus entstand das Purim-Fest oder die mehrfache Zerstörung des Heiligen Tempels zu Jerusalem.
Die Erinnerung an diese Schandtat begehen wir mit strengem Fasten. Doch der 9. November 1938, so scheint es, hat das Judentum bis heute verstummen lassen.
Brennende Synagogen geschändet durch den braunen Mob, der die gesetzliche Grundlage zur Entrechtung des Judentums in Deutschland schuf - kollektiv wehrlos gegenüber einem machtbesoffenen, von Allmachtphantasien vergifteten Volk geworden zu sein. All dies hat das Judentum in diesem Lande erstarren lassen. Bis heute, so glaube ich.
Mehr noch: In Israel, Amerika oder Russland geborene Juden, die heute in Deutschland leben, stehen fragend vor dem 9. November 1938. Für meine Kinder und meine Schüler scheint er tausend Jahre zurückzuliegen. Kaum anders die Generationen später geborenen Deutschen, die noch nie einen Juden von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Ein schrecklicher Verdacht beschleicht mich:
Wird hier ein im Grau der Geschichte zurückliegendes, mehr und mehr verblassendes Ereignis künstlich wachgehalten?
Ist der 9. November nur noch ein Stück Museumskult? Von ekelhaften Computerspielen und aus den widerlichen Traktaten des pathologischen Nazis Ernst Zündel, kennen wir Phrasen wie "Die Welt ohne Zionismus", „Israel von der Landkarte vertilgen!" und die „Verschwörung des Weltjudentums".
Seit dem 31. Oktober 2005 haben diese Sätze eine neue Bedeutung erhalten. Mahmud Ahmadinedschat, gewählter Präsident der Islamischen Republik Iran, hat keine Skrupel, zur Vernichtung Israels aufzurufen. Das Oberhaupt eines UNO-Mitgliedstaates ruft zur Austilgung eines anderen UNO-Mitgliedstaates auf!
Dass dies kein Übersetzungsfehler ist, beweist die daran anknüpfende Äußerung des iranischen Außenministers Manouchehr Mottaki: Israel von der Landkarte zu löschen sei eine nicht zurückzunehmende Forderung aller Muslime.
Meine verehrten Damen und Herren,
so entsetzlich diese Äußerungen auch sein mögen, am 9. November 2005 vermögen wir sie nicht von dem Vernichtungsprogramm der Nazis zu trennen.
Was Hitler unter dem Jubel der Bevölkerung in die Welt schrie, endete für Millionen Juden in den Gaskammern.
Oder in hinterhältigen, heimtückischen Selbstmordanschlägen.
Der Nationalsozialismus hat von Deutschland aus am 9. November 1938 eine scheinbare Legitimation zur Zerstörung und Vernichtung des Judentums gegeben.
Und alle unsere redlichen und treuen Freunde - und das schließt Sie, liebe Anwesende, ein - in der ersten demokratischen Republik nach dem 2. Weltkrieg können nicht verhindern, dass auch heute unsere Synagogen, unsere Schulen und Kindergärten von der Polizei geschützt werden müssen.
Mehr noch: Die Bundesrepublik leistet sich im Rahmen ihrer demokratischen Toleranz eine rechte Szene aus Alt- und Neu-Nazis, die mit Fackelzügen und Aufmärschen an geschichtsträchtigen Orten unsere europäischen Nachbarn das Gruseln lehren.
Die Tatsache, dass der braune Mob regelmäßig im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird verhindert nicht, dass deutschtümelnde Rechte ungehindert frech gegen den Neubau von Synagogen lauthals und nahezu ungehindert pöbeln.
Und auch das lehrt uns der 9. November:
Die Last der Geschichte ist noch längst nicht abgearbeitet. Damit kann auch das Gedenken an die Pogromnacht niemals gleichrangig neben anderen historischen Ereignissen dieses Datums stehen.
Ein Bochumer Amtsrichter - ich darf an das eingangs erwähnte Urteil, das mich mit Entsetzen erfüllt, erinnern, hat versucht, die Teilnahme an einer Gedenkveranstaltung wie dieser wegen einer Banalität zu kriminalisieren.
Sein Urteil ist bei weitem keine Antwort, die das Problem der Pogromnacht erledigt.
Es ist bestenfalls eine Frage, an der alle Erklärungsversuche - ständig aktualisiert durch Antisemitismus und Menschenverachtung - scheitern.




Diese Aufzeichnung ist noch nicht von Frank Yaákov Barth autorisiert.